«Demokratie ist die Staatsform der Selbstbindung», sagt Andreas Kley.

Von Dr. Thomas M. Studer
Vor 150 Jahren wurde die Schweizer Verfassung totalrevidiert. Ein Grund zum feiern?

Es geht also um ein Zusammengehörigkeitsgefühl?

Zur Person

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kley ist seit 2005 Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. Von 1997 bis 2005 war er Professor für Staatsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte an der Universität Bern. Praktische Tätigkeit als Anwalt übte er von 1990 bis 1997 aus, unterbrochen durch die Ausarbeitung der Habilitationsschrift (1992-1995). Ausserdem lehrte er als Privatdozent für öffentliches Recht 1995 an der Universität St. Gallen.

Die erfolgreiche Gründung des modernen Bundesstaats von 1848 steht bereits in Kontrast zu den misslungenen Revolutionen in den europäischen Nachbarstaaten. Kann man sagen, dass mit der Totalrevision von 1874 die Schweiz endgültig zum verfassungsmässigen Sonderfall in Europa wird?

«Tatsächlich stand die Schweiz ab 1874 als direktdemokratischer Sonderfall relativ einsam in Europa da.»
Andreas Kley
Mit dem neu eingeführten Referendumsrecht wurde die Volksherrschaft rechtlich auch auf Bundesebene etabliert. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1789 beginnt in der Präambel ebenfalls mit den Worten «Wir das Volk …». Trotzdem kennen nur die US-Bundesstaaten die direkte Demokratie. Warum hat die Schweiz geschafft, was in den USA nicht gelang?

Die direkte Demokratie ist das prägende Strukturmerkmal der Schweizer Politik. Ökonomisch gesehen sind damit einige Vorteile verbunden, weil die Politik stärker an den Wählerwillen gebunden wird. Gleichzeitig steht das demokratische Prinzip gelegentlich in Spannung zur Rechtsstaatlichkeit. Wie sieht das der Staatsrechtler Kley?

Sondern?

1874 reichten 30'000 Unterschriften, damit ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz dem Stimmvolk vorgelegt werden musste – damals zählte die Schweiz rund 2,7 Millionen Einwohner, wobei die weibliche Hälfte der Bürger nicht stimmberechtigt war und es keine Mobilisierung dank Digitalisierung gab. Heute zählt die Schweiz 9 Millionen Einwohner, und es reichen 50'000 Unterschriften für ein Referendum. Bräuchte es hier im Geiste von 1874 höhere Hürden, um die Ernsthaftigkeit der Anliegen zu gewährleisten?

Also halten Sie die Hürde nicht für zu tief?

Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass die Ausweitung der Staatsverwaltung zu einer Machtverschiebung geführt habe. Um die Technokraten zu bändigen, brauche es mehr und nicht weniger direkte Volksrechte – beispielsweise mit einem Ausgabenreferendum. Was halten Sie davon?

Wieso gibt es dieses Referendum nicht mehr?

«Die Politik missbraucht die direktdemokratischen Rechte instrumentell, wenn sie glaubt, es würde ihr im Moment gerade nützen.»
Andreas Kley
Seit Jahren halten manche Politologen, Juristen und Ökonomen den Schweizer Bundesstaat für unvollendet und fordern ein Verfassungsgericht. Was wären die Vor- und Nachteile einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene? Und wie stehen Sie selbst zu diesem Vorschlag?

Die «Einheit der Materie» ist ein Rechtsgrundsatz, der den unverfälschten Wählerwillen schützen will. Sie haben sich skeptisch zu diesem Grundsatz geäussert, wenn es um Gesetzesrevisionen geht. Denken wir nur an die Abstimmung vom 25. September 2022 zur Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der MWST und der Erhöhung des Frauenrentenalters oder die diskutierte Verbindung von Verteidigungsausgaben mit der Kürzung der Entwicklungshilfe…

Für Bundesgesetze gilt dieser Grundsatz nicht?

Wieso berufen sich die Mitglieder des Parlaments aber oft auf die Einheit der Materie?

Sie haben sich stark mit dem bedeutenden Staatsrechtler Zaccaria Giacometti befasst – einem Ihrer Vorgänger auf dem Zürcher Lehrstuhl für Staatsrecht. Giacometti plädierte auch in schwierigen Zeiten des Krieges für die Verfassungstreue. Was können wir von Giacometti heute noch lernen, beispielsweise wenn es um die Einhaltung der Schuldenbremse geht?

Aber sind Krisensituationen, die es zwischen 1914 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs ja zur Genüge gab, nicht begründete Ausnahmen?

«Die Demokratie ist die Staatsform des Zeithabens.»
Andreas Kley
Also ist die Gewährleistung von Stabilität und Rechtsstaatlichkeit höher zu gewichten als kurzfristige und vermeintlich pragmatische Lösungen in Krisenzeiten?